Loevinger´s Konzept zur „Ich-Entwicklung“ – Teil 1

8.00 Uhr. Meeting im Büro vom Chef. Es geht um die stetig sinkende Effektivität im Produktionsprozess der Frischfisch AG und die dadurch steigenden Produktstückkosten. Heute soll es mit den wichtigsten Mitarbeitern um die Gründe dafür gehen. Noch bevor der CEO die Runde ordnungsgemäß eröffnen konnte, bläst Frau Fach, die Chefin des Controllings, zum Großangriff gegen den Einkaufsleiter Herr Tauber. Sie habe die Abläufe in der Einkaufsabteilung analysiert und kam zu dem Ergebnis, dass „der Fisch vom Kopf stinkt“ und Herr Tauber hauptsächlich für die schlechten Geschäftszahlen verantwortlich ist. Dass die Einkaufsabteilung in den letzten Monaten stets gute Abschlüsse verzeichnete und dass Herr Tauber seinen Job gut macht, verschweigt sie ihm, da sie ihn seit der gemeinsamen Studienzeit als Erzfeind ansieht.

Herr Tauber geht zur Überraschung der anderen nicht auf diesen Angriff ein, da er um seine guten Zahlen weiß und Frau Fachs Absichten schon längst durchschaut hat. Er blickt nun wieder auf das eigentliche Problem und bemängelt den zunehmenden Zahlendruck im Unternehmen, in dem es nur um Leistung und Optimierung, anstatt um eine höhere Mission und nachhaltige Entwicklung des Unternehmens gehe. Er schlägt mehr Weiterbildungsmaßnahmen vor, damit die Mitarbeiter auch persönlich reifen können. Der Betriebsratsvorsitzende nickt eifrig und nennt die steigenden Krankheitszahlen aufgrund des schlechten Umgangs miteinander als Ursache für die geringere Produktivität. Er schlägt eine konsequente Kommunikation auf Augenhöhe mit den Mitarbeitern vor und will den Mitarbeitern ein Recht auf Homeoffice ermöglichen, um Familie und Beruf besser managen zu können. Dem entgegnet der langjährige Finanzvorstand, dass solche Maßnahmen nicht wirtschaftlich seien. Der Einführung von Homeoffice würde er unter keinen Umständen zustimmen. Frustriert bricht der CEO das Meeting ab und hofft auf ein produktiveres Treffen in der nächsten Woche.

Diese kleine Geschichte aus einem typischen Meeting hat so oder so ähnlich schon unzählige Male stattgefunden. In dieser Runde konnten sich die Akteure vor allem nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, weil sie in der „Ich-Entwicklung“ auf unterschiedlichen Stufen standen.

„Ich-Entwicklung“? Verschiedene Stufen? Genau!

Jane Loevinger, eine US-Entwicklungspsychologin hat viele Jahre ihres Lebens damit verbracht, eine Theorie zur Vermessung des Ichs aufzustellen. Nach Tests mit tausenden Menschen aus Nordamerika sowie West- und Mitteleuropa erkannte sie, dass sich das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen im Laufe des Lebens in eine immer ähnliche Richtung entwickelt. Jedes Ich durchläuft demnach eine feste Reihenfolge von Entwicklungsstufen, wobei jede Einzelne immer differenzierter und komplexer wird. Jane Loevinger unterscheidet in insgesamt neun messbare Stufen. Aber kein Mensch befindet sich immer nur auf einer Stufe, denn oft verteilt sich unsere Entwicklung auf mehrere Stufen, wobei auf einer der Schwerpunkt liegt. Loevingers Theorie wird durchaus kritisch diskutiert, aber es gibt Konsens, dass es eine gute Orientierung gibt, was mit unserer Persönlichkeit im Laufe unseres Lebens passiert.

Auch in der Gesellschaft befinden sich die meisten Menschen auf einer bestimmten Stufe. Folgt man Loevingers Konzept, dann stehen uns fundamentale Veränderungen bevor. Denn die Verteilung in der Gesellschaft scheint sich immer mehr auf spätere Stufen zu verlagern.

Mehr als zwei Drittel der Individuen befinden sich derzeit auf den Stufen E5 und E6. Vereinfacht lässt sich sagen: Je mehr Menschen auf späteren Entwicklungsstufen stehen, desto selbstbestimmter, offener und demokratischer kann auch die Gesellschaft sein.

Der Organisationsberater Thomas Binder, der seit Jahren zur Ich-Entwicklungstheorie forscht, sagt, dass sich die Zahl der Bürger auf späteren Entwicklungsstufen in westlichen Gesellschaften über die letzten 100 Jahre erhöht hat. „Das würde zum Beispiel erklären, warum autoritäre Wertmuster in Ehe, Arbeitsleben, Familie und Schule seit den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts an Einfluss verloren haben.“

Denn aktuellen Testergebnissen zufolge befindet sich gut ein Zehntel der Bevölkerung in westlichen Gesellschaften bereits auf der Stufe E7 – einem Entwicklungsniveau, das sich radikal von den vorigen Stufen unterscheidet.

Das Leistungsideal kann an Reiz verlieren

Menschen der Stufe E7 beginnen, die Regeln des sozialen Zusammenlebens mit Abstand zu sehen. Sie hinterfragen kritisch, warum in ihrer Gesellschaft bestimmte Werte, Normen, Maxime und Rollenidentitäten als besonders wichtig gelten und andere nicht. Wenn der Anteil der Stufe E7 eine kritische Größe erreicht, dann dürfte sich die Art unseres Zusammenlebens stark verändern:

Das Leistungsideal, wie wir es kennen, dürfte an Reiz verlieren. „E7 stellen bei ihrer Lebensplanung verstärkt die Sinn- oder Identitätsfrage“, sagt Ich-Forscher Binder. Das Prinzip Geld und Status allein erscheinen immer weniger als lohnenswert. Es wird zunehmend wichtiger, sich selbst zu verwirklichen. Die Arbeitswelt steht dadurch vor neuen Herausforderungen. In den Unternehmen dürften sich Partizipation und Selbstorganisation stärker verbreiten.

Wie die einzelnen Stufen im Detail aussehen und auf welcher Stufe Sie sich selbst einordnen, können Sie im Teil 2. herausfinden.

Viel Spaß bei der Ich-Entwicklung,

Silas Gottwald und Axel Hamann

Ihr Best Practice Institute Team

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