Wird die Menschheit immer intelligenter?
Statistisch gesehen schneidet jede neue Generation bei IQ-Tests besser ab als die Generation davor. Der Trend hält schon seit 100 Jahren an – werden die Menschen tatsächlich intelligenter?
Ein Wert von 100 markiert bei Intelligenztests das Mittelmaß, so schreibt es das Regelwerk der Statistik vor, doch diese Marke scheint sich im Laufe der Zeit zu verschieben. „Wenn wir uns an der Norm unserer Großeltern messen würden, dann hätten wir heute im Schnitt einen IQ von 130“, sagt James Flynn. Dem US-amerikanischen Intelligenzforscher fiel als erstem auf, dass die Folgegeneration bei IQ-Tests immer besser abschneidet als jene davor – nachgewiesen wurde dieser Trend zunächst in den USA, dann kamen Industrieländer wie Dänemark, Deutschland und die Niederlande hinzu, mittlerweile wurden Psychologen auch in Entwicklungsländern fündig.
Der „Flynn-Effekt“ ist statistisch recht gut abgesichert, aber nicht unumstritten. Die Frage lautet: Sind die Nachgeborenen wirklich intelligenter als ihre Eltern oder Großeltern?
James Flynn hält das für eine überzogene Interpretation. Für ihn zeigt der Anstieg der IQ-Kurve bloß, dass sich der Denkstil im Lauf der Zeit verändert hat. Hypothetisches Denken, Abstraktion, logisches Schließen – alles Tugenden des wissenschaftlichen Zeitalters – sind heute viel stärker im Alltag verankert als früher. „Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, wie groß die kognitiven Reserven bei ganz normalen Menschen sind, da haben wir Fortschritte gemacht. Aber das ist nicht überall so. Die Jungen lesen heute weniger Literatur und beschäftigen sich weniger mit Geschichte, sie leben in der Blase des Jetzt.“ Was er nachgewiesen habe, so Flynn, sei also ein kultureller Tausch: Das Konkrete wurde durch das Abtstrakte ersetzt, eben durch Fähigkeiten, die in Intelligenztests viele Punkte bringen.
Uwe Sunde, Bevölkerungsökonom an der Universität München, hat eine Studie veröffentlicht, die einige Lücken in Flynns frühen Untersuchungen schließt. „Das Problem bei diesen Arbeiten war, dass die IQ-Werte oft nur einmal im Leben der Probanden gemessen wurden, etwa bei der Musterung beim Militär“, sagt Sunde. „Wir wussten also gar nicht, ob und wie sich die kognitive Leistungsfähigkeit im Laufe des Lebens verändert.“ Um das zu beantworten, bediente er sich einer indirekten Methode – und untersuchte eine geistig fordernde Tätigkeit, über die es jede Menge Datenmaterial gibt: das Schachspiel.
24.000 Partien aller Schachweltmeister von Wilhelm Steinitz bis Magnus Carlsen hat Sunde nun mit Hilfe des Computerprogramms „Stockfish“ unter die Lupe genommen, zu klären galt es zwei Fragen: Hat sich das Niveau des Spiels im Laufe der Generationen verändert? Und wie entwickelte sich die Spielstärke einzelner Spieler zwischen Beginn und Ende ihrer Karriere?
Nimmt man die von „Stockfish“ vorgeschlagenen Züge als Maßstab (das Programm spielt deutlich stärker als jeder Mensch), fällt die Antwort eindeutig aus. Das höchste Spielniveau erreichen Spitzenspieler nach steilem Anstieg in der Jugend mit einem Alter von 30 bis 35 Jahren, dann folgt ein Plateau und der schrittweise Abschied aus der Weltelite. Im Vergleich der Generationen zeigt sich ein ähnliches Bild wie es bereits Flynn mit seinen IQ-Studien nachgewiesen hat: Der Prozentsatz der optimalen Züge nimmt mit jedem Jahrzehnt zu, frühere Weltmeister wie Capablanca, Fisher und Kasparow mögen zu ihrer Glanzzeit konkurrenzlos gewesen sein, doch auch sie wurden vom stetigen Fortschritt irgendwann überholt.
Auffällig ist vor allem der steile Anstieg optimaler Züge ab den frühen 1990ern – jenes Jahrzehnt, das den Beginn des Computerschachzeitalters markiert. „Wir können in unseren Daten klar nachweisen, dass vor allem die Jüngeren von den Vorteilen des Computerschachs profitiert haben“, sagt Sunde. Und betont: Dass die Schachspieler im Vergleich zu früher nun mit Superhirnen ausgestattet wären, könne man aus den Daten nicht ablesen, der Effekt sei vor allem durch Erfahrung und verbessertes Training zu erklären. Man könnte es auch in den Worten von James Flynn ausdrücken: Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, wie groß die kognitiven Reserven sind.
Axel Hamann