Vom Glück der Veränderung: Nachhaltig im Einklang mit sich leben

Im Wald unter einem Baum saß schweigend der junge Jean-Jacques Rousseau. Es war das Jahr 1749 und er hatte eben seinen Freund d’Alembert im Staatsgefängnis von Vincennes besucht. Angeregt durch das Gespräch las Rousseau auf dem Rückweg während einer Rast von einer Preisfrage der Académie von Dijon, nämlich ob die Renaissance der Wissenschaften und Künste uns zu besseren Menschen gemacht habe. Plötzlich durchzuckte Rousseau eine Antwort, die sein Leben für immer veränderte: Nein, ganz im Gegenteil! Der Mensch sei frei geboren, schrieb Rousseau, doch überall liege er in Ketten. Die Wissenschaften und die ganze Zivilisation hätten uns von unserer natürlichen Menschlichkeit entfremdet und die modernen Bürger lebten wie Sklaven der gesellschaftlichen Konventionen. Es war die Geburtsstunde der modernen Kulturkritik – und der Besinnung auf die eigene innere Stimme als eines Wegführers zu einem erfüllten Leben.

Heute ist diese Form des Selbstkontakts aus unserer Lebensführung nicht mehr wegzudenken. Fragen Sie sich einmal: Was sagt Ihnen Ihre eigene innere Stimme? Würden Sie gerne etwas in Ihrem Leben ändern? Womit würden Sie gerne aufhören? Womit neu anfangen? Sind es kleine Angewohnheiten des Alltags, die Sie beschäftigen? Oder schleppen Sie eher ein großes Thema mit sich herum? Die Fähigkeit, uns zu verändern, ist fundamental für unser Leben – seit Menschengedenken. Schon weil das menschliche Leben Phasen hat. Jede neue Phase fordert, neue Fähigkeiten zu entwickeln, neue Gewohnheiten anzunehmen und sich in einer neuen Konstellation einzurichten – zumindest für einige Zeit.

Wenn wir das Elternhaus verlassen und unser eigenes Leben aufbauen; wenn eine Beziehung ernsthaft wird oder wenn sie sich auflöst; wenn eine Familie gegründet wird; während Kinder aufwachsen und sich ständig vieles ändert – besonders während der Pubertät; wenn Kinder das Elternhaus verlassen; wenn wir in einen Beruf einsteigen, einen Berufswechsel vollziehen oder in eine andere Organisationsstruktur einsteigen; wenn wir das Berufsleben ganz hinter uns lassen; wenn wir eine ernste ärztliche Diagnose bekommen; wenn wir einen lieben Menschen verlieren.

Diese Beispiele zeigen: Bei der Fähigkeit, die eigene Lebensweise zu ändern, geht es nicht um Optimierungswahn oder kurzfristige Moden. Es geht darum, immer wieder eine gute Antwort zu finden auf die Fragen und Herausforderungen, die das Leben an uns stellt. Mit anderen Worten, wir müssen persönlich wachsen können – deshalb ist die Fähigkeit zur Veränderung die Grundlage jeder Vorstellung von einem guten Leben und des Weges dorthin. Eine lebensverändernde Einsicht, wie die Rousseaus oder auch ganz anders gelagert, kann uns tief berühren, ja erschüttern.

Wann hatten Sie zuletzt einen solchen Moment einer plötzlichen Klarheit in Ihrer Lebensperspektive?

Leider trügt die Vorstellung, dass sich damit schon alles automatisch wandelt. Schnell kehrt der Alltag wieder und damit auch die alten Muster. Machen wir uns nichts vor: Auch die großen philosophischen, religiösen oder wissenschaftlichen Einsichten wurden von ihren Gründern zwar instantan empfangen, aber danach über lange Zeit entwickelt. Als Immanuel Kant im Alter von fast fünfzig Jahren seine revolutionäre Idee einer neuen Art Philosophie hatte, arbeitete er zehn Jahre daran und veröffentlichte nichts. Diese nachhaltige Arbeit an uns braucht es. Unsere Gewohnheiten, selbst wenn wir sie ablegen wollen, haben eine große Trägheit. Sie sind uns zweite Natur geworden und in den Menschen um uns und den Umständen verankert. Und welche Kraft hat neben der äußeren die innere Natur!

Wie also können wir Veränderungen bewältigen?

Eine erste bestärkende Einsicht ist, dass wir es können. Manchmal vergessen wir das. Bisweilen sind wir mutlos, haben vielleicht wiederholt aufgegeben oder haben die Stagnation sogar in unser Selbstbild integriert. Vielleicht erzählen wir über uns „Ich bin nicht der Typ für Veränderungen.“ Überraschung: Allein die Tatsache, dass wir Menschen sind, macht uns zum Typ für Veränderungen. Nietzsche nannte den Menschen auch „das nicht festgestellte Tier“. Heutige Anthropologen wie Michael Tomasello vom Leipziger Max-Planck-Institut bestätigen das: Sie bezeichnen die Wandlungsfähigkeit unserer Gewohnheiten als einen evolutionären Mechanismus, der der genetischen Anpassung an Schnelligkeit um ein Vielfaches überlegen sei. Wie seltsam, dass wir vom Menschen als „Gewohnheitstier“ sprechen und dabei gar nicht an diese Fähigkeit zur habitualen Variation denken!

Um Veränderungen dann konkret zu schaffen, bedarf es vor allem zweierlei: Erstens der Selbsterkenntnis, also uns selbst besser zu kennen, einzuschätzen und uns darüber klar zu werden, was am Grund unseres „Gefühls des Daseins“ liegt. Und zweitens haben wir nicht nur eine, sondern ein ganzes Bündel an Fähigkeiten zu entwickeln und in ein produktives Zusammenspiel zu bringen – wie theoretisches Verstehen, praktisches Überlegen, Klugheit im Handeln, Selbstaktivierung und moralische Reflexion. Auch ein gutes Rückfallmanagement kann nicht schaden. Nehmen wir unsere persönliche Entwicklung also so wichtig, wie sie es verdient. „Man kann nie glücklich werden, wenn sich das, woran man glaubt, nicht mit dem deckt, was man tut“, schrieb der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson. Glücklich zu sein hat demnach die Voraussetzung, im Einklang mit sich zu leben. Und „glücklich leben“ – wollen wir das nicht alle? Deshalb ist es so wichtig, dass wir notwendige Veränderungen besonnen angehen, und uns nicht entmutigen lassen. Eine nachhaltige Veränderung ist kein Strohfeuer, sondern braucht Zeit und Beharrlichkeit. Soll es funktionieren, dann geht es weniger um Aktionismus, sondern um eine Form der Selbst-Bildung. Und gehört das nicht zu den erfüllensten Momenten des Lebens – die Einsicht, etwas Neues zu können und ein weiteres Mal innerlich gewachsen zu sein?

 

Dr. Nicolas Dierks

Key-Note Speaker bei #10JahreBPI

www.nicolas-dierks.de

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